Geschichten aus dem Kinderzimmer

“Gestern habe ich Papa geheiratet”

vom Ödipus-Komplex

Die griechische Mythologie erzählt die Geschichte von Laios, dem König von Theben, und seiner Frau, Königin Iokaste, denen die eher unschöne Prophezeiung gemacht wird, dass ihr gerade geschlüpfter Sohn (Ödipus) seinen Vater töten und anschließend seine eigene Mutter heiraten werde.

Um dem Schicksal zu entkommen, soll der bis dato vollkommen unschuldige königliche Nachwuchs darum prophylaktisch zum Sterben im Wald ausgesetzt werden. Da König*innen ihre dreckigen Geschäfte aber schon immer gern von anderen erledigen ließen, klappt das ebenso wenig wie einige hundert Jahre später die Nummer mit Schneewittchen: aus Menschlichkeit und Mitleid bringt der zum Kindsmörder erkorene Diener das Kind zum Königspaar in Korinth, einem offenbar ganz in der Nähe liegenden Nachbarkönigreich.

König Polybos und Königin Merope von Korinth adoptieren das Kind ohne Kenntnis seiner wahren Herkunft aus unklarem Grund als Thronfolger, und der kleine Prinz wächst unbeschwert und ohne Kenntnis dieser gruseligen Geschichte auf.

Bis eines Tages ein weiteres Orakel diesmal dem 14jährigen Ödipus prophezeit, dass er – wir ahnen es – seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen werde.

Da sich offenbar damals die in der heutigen Fantasy-Literatur allgemein bekannte Theorie, dass man seinem Schicksal nicht entrinnen kann, noch nicht durchgesetzt hatte, verlässt Ödipus seine Adoptiveltern (die er nach wie vor für die leiblichen hält), um sie vor sich selbst zu schützen.

Das böse Ende ist vorprogrammiert

Und es ist ein bisschen wie im Horrorfilm, wenn wir den Protagonist*innen zurufen wollen “Nein! Geh nicht in diesen dunklen Keller!”

Denn Ödipus trifft stante pede auf einen ihm unbekannten älteren Herrn, mit dem er so heftig in Streit gerät, dass er ihn prompt erschlägt. Es war natürlich Laios, sein leiblicher Erzeuger.

Anschließend wandert er schnurstracks nach Theben, befreit die Stadt aus dem Würgegriff der Sphinx und bekommt dafür zum Dank den vakant gewordenen Königsthron nebst einer etwas in die Jahre gekommenen Königin Iokaste zur Gemahlin.

Und so ist Ödipus ohne es zu wissen zum Vatermörder und inzestuösen Gatten seiner Mutter geworden.

Als Strafe für diese unverzeihlichen Sünden schicken die Götter erst die Pest nach Theben und offenbaren Ödipus schließlich in Gestalt des blinden Sehers Thereisias seine Verbrechen, was wieder einmal beweist, dass Unwissen vor Strafe offenbar nicht schützt.

Ödipus findet das alles auch derart grauenvoll, dass er sich (obacht!) mit den Gewandnadeln seiner Mutter/Ehefrau die Augen aussticht.

Diese Skulptur des französischen Bildhauers Jean-Baptiste Hugues von 1885 zeigt den blinden Ödipus mit seiner Tochter Antigone, deren, nunja, Ödipus-Issues dazu führten, dass sie sich zeitlebens aufopferungsvoll um ihren Vater kümmerte. Die Intimität und die töchterliche Bewunderung sind nicht zu übersehen (Bild von Celtibere auf Pixabay).

Ein Mythos und seine Interpretationen

Und ungeachtet der Tatsache, dass ich es aus heutiger Sicht tendenziell fragwürdig finde, Neugeborene in Wäldern auszusetzen, Lebensentscheidungen auf Grundlage esoterischer Vorhersagen zu treffen oder fremde Menschen wegen Nichtigkeiten umzubringen (denn spitzfindig gesagt: es wäre eine ziemlich gute Möglichkeit gewesen, einfach NIEMANDEN umzubringen, dann hätte es den Vater auch zufällig nicht treffen können), entzündet der Mythos des Ödipus seit Jahrhunderten die Phantasie von Künstler*innen, Philosoph*innen und anderen Gelehrten.

Auch Sigmund Freud wählte im Jahr 1910 diese Geschichte aus, um ein Phänomen zu erklären, dass er als allgemeingültiges Ereignis in der menschlichen psychischen Entwicklung beschrieb: dass ein jeder kleiner Junge zwischen 3 und 5 Jahren (in der “ödipalen Phase”) irgendwann ein sexuelles (sic!) Begehren für seine Mutter und nachfolgend eine Konkurrenzsituation mit dem Vater (und daraus resultierender Kastrationsangst) entwickle. Dieser Ödipuskomplex lasse sich nur auflösen, indem der kleine Junge sich mit dem Vater identifiziere und dadurch seine Geschlechtsidentität sichere.

“Kastrationsangst? Der spinnt doch!”

Für Mädchen gilt etwas ähnliches, dass aber irgendwie auch ganz anders funktioniert. Als ich zum ersten Mal davon gelesen habe, dachte ich spontan etwas so Qualifiziertes wie: “Der hatte sie ja nicht mehr alle, dieser Freud.”

Diese Meinung behielt ich ignoranterweise bei bis (zufälligerweise kurz darauf) meine älteste Tochter vier Jahre alt wurde und mir stolz erklärte: “Mama, gestern habe ich Papa geheiratet!”

Ich war so perplex (in erster Linie davon, dass es wirklich geschah), dass ich ungeachtet meiner therapeutischen Ausbildung total blöd reagierte. “Ach ja? Wie kannst Du Papa heiraten, wenn ich den schon längst geheiratet habe?”

Die kleine unsichtbare Psychotherapeutin auf meiner Schulter hob auch sogleich den Zeigefinger und raunte mir verschwörerisch zu: “Pssst. Du konkurrierst gerade mit deiner Vierjährigen. Lass das mal besser sein.”

Zum Glück war meine Tochter erwachsen und reif genug für uns beide. Mit einem etwas mitleidigen Blick, mit dem unsere Kinder ja bereits im Kleinkindalter mitteilen können, für wie minderbemittelt sie uns halten, verkündete sie wie selbstverständlich: “Wieso? Wir können den doch beide heiraten.”

Autsch.

In meiner Verzweiflung rannte ich gefühlt am nächsten Tag zu meiner Chefin, um halb unter Tränen zu gestehen, dass ich eine total schlechte Therapeutin und Mutter sei, die es geschafft habe, mit ihrem Unvermögen dem eigenen Kind schlimme Ödipus-Issues einzutrichtern.

Leider düpierte die Antwort meiner Chefin mich ein zweites Mal. “Quatsch. Das Kind hat die Entwicklungsaufgabe doch gelöst. Sie können ihn beide heiraten.”

Eine klassische Dreiecksbeziehung: Eltern und Kind. (Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay)

Und zum ersten Mal dämmerte mir, dass ich die Metaphorik des Mythos (und dessen psychoanalytische Bedeutung) wohl nur halb bis gar nicht begriffen hatte.

Das liegt vielleicht auch daran, dass die “öffentlich” zugänglichen Texte oft plakativ und verkürzend sind. Und natürlich, dass Freud selbst sein ganzes Leben lang um neue Definitionen des Themas rang (und keine abschließende formuliert hat) und sich mittlerweile Generationen von Psychoanalytiker*innen daran abgearbeitet (und dabei oftmals weit von der ursprünglichen Bedeutung entfernt) haben.

Was steckt hinter dem Ödipus-Komplex?

Der bedeutende deutsche Psychoanalytiker Wolfgang Mertens fasste die Debatte zusammen mit: “Der Ödipus-Komplex umfasst […] die Gesamtheit der kindlichen Liebes-, Hass- und Schuldgefühle gegenüber den Eltern.“

Moderne psychoanalytische Theorien gehen nämlich davon aus, dass mit dem Begriff des Ödipus-Komplex eine spezielle Beziehungskonstellation zwischen Eltern (gleich welchen Geschlechts) und dem Kind (ebenfalls gleich welchen Geschlechts) beschrieben wird, in welcher es widerstreitende Gefühle zu bewältigen gilt.

Für das Kind geht es um nicht weniger als die Entwicklung einer komplexen und reifen Gesamtpersönlichkeit: neben der Individuation und Autonomie (also der Frage, wie ich mit Autoritäten und Regeln, auch den elterlichen, umgehe) kristallieren sich in der ödipalen Konstellation und ihrer Lösung auch basale Funktionen des Ich heraus. Hier entscheidet sich, ob vor allem negative Gefühle wie Wut, Hass und Neid gefühlt, ertragen und reguliert werden können.

Die Neid- und Hassgefühle, die meine Tochter in meine Richtung hegte, hat sie übrigens auf eine entzückend passiv-aggressive Weise zum Ausdruck gebracht. Als ich sie nämlich fragte, wo denn ich gewesen sei während ihrer Hochzeit, antwortete sie trocken: “Du hast den Abwasch gemacht.”

Das, was man Freud schon zu Lebzeiten vorgeworfen hat, die psychosexuelle Dimension dieser Phase, wird aus heutiger Sicht nicht rein auf das Inzesttabu bezogen. Es umfasst auch die sexuelle Objektfindung (homo oder hetero?) und die Entwicklung einer eigenen geschlechtlichen Identität.

Nicht zuletzt geht es auch darum, die Sexualität der Eltern anzuerkennen und eigenständige Beziehungen zu beiden Elternteilen eingehen zu können. Diese Fähigkeit zur Triangulierung ist wesentlich dafür, alle anderen Freundschaften und Liebesbeziehungen im späteren Leben glückbringend gestalten zu können.

Meine Tochter hat die Triangulierung ganz wunderbar geschafft: wir können beide Papa heiraten. Wir dürfen ihn beide unabhängig voneinander lieben und eine Beziehung zu ihm haben. Und gleichzeitig haben wir – meine Tochter und ich – eine Beziehung, in der wir akzeptieren, dass die jeweils andere eine Beziehung zu Papa hat.

In der modernen Psychoanalyse wird die Rolle der Eltern mitbeleuchtet. Und auch die Frage, wie der Ödipus-Komplex in Regenbogen-Familien aussieht. (Bild von clker-free-vector-images auf Pixabay)

Welche Rolle spielen die Eltern?

Die heutige Forschung geht übrigens davon aus, dass nicht nur das Kind eine Rolle in diesem Spiel hat. Auch die Eltern sind natürlich Akteur*innen in der ödipalen Entwicklung des Kindes. Hier sind vor allem die ambivalenten elterlichen Gefühle dem Kind gegenüber zu nennen, die sich bei allen Eltern entwickeln (auch wenn sie nicht immer bewusst zugänglich sind), weil es (wie Astrid Lindgren sagt) “Mühe macht”, sich um ein kleines Kind zu kümmern: emotionale, soziale und tatsächlich physische Mühe, die neben der Freude, dem Glück und der Liebe auch andere (sozial möglicherweise wenig erwünschte) Gefühle wecken kann.

Außerdem haben natürlich auch die Eltern als Kinder eine ödipale Situation mit ihren eigenen Eltern erlebt, die gelöst oder ungelöst sein kann, und die in jedem möglichen Fall das eigene elterliche Fühlen, Denken und Handeln beeinflusst – meine eigene, offenbar von Neid und Rivalität getriebene Reaktion auf die Mitteilung meiner Tochter hat gewiss mit meinen eigenen ödipalen Erfahrungen zu tun.

Damit erklärt sich auch, warum die Theorie vom Ödipus-Komplex so zentral für die Psychoanalyse ist. Es geht um nichts geringeres als die komplizierte und komplexe Persönlichkeitswerdung des Menschen im Spannungsfeld seiner frühen familiären Beziehungen.

Zweiter Versuch: Ödipus-Komplex reloaded

Mit diesem Wissen (und der einschlägigen Erfahrung im Gepäck), konnte ich dann endlich triumphieren, als die zweite Tochter rund um ihren vierten Geburtstag angetan in Schleier und Robe in eleganter Pose auf dem Hüpfepferd saß und verkündete, bald finde die Trauung mit ihrem Vater statt.

“Cool, viel Spaß!” sagte ich lässig und kam mir wahnsinnig progressiv vor.

Bis zum vierten Geburtstag von Nummer drei (diesmal ein Junge) ist noch ein bisschen Zeit. Mittlerweile habe ich gelernt, dass die sexuelle Orientierung eines Menschen (die sich – ähnlich wie die sexuelle Identität – innerhalb der ersten Lebensjahre entwickelt) auch auf die Ausgestaltung des kindlichen Begehrens in der ödipalen Phase (die genaugenommen keine streng abtrennbare Phase ist) auswirkt. Kurz zusammengefasst: wenn mein Sohn homosexuell ist, möchte er AUCH Papa heiraten.

Es wird sich bald zeigen und ich bin gespannt darauf. Und ich werde auf jeden Fall abgebrüht reagieren.

Bild oben: von Dorothe Wouters auf darkmoon-art.de

Weiterführende Literatur

  • Kohn, Mathias: Kritik und Erweiterung des Ödipuskomplexes. In: Boll-Klatt, Annegret, Kohn, Mathias: Praxis der psychodynamischen Psychotherapie. S. 123-226. Schattauer, Stuttgart 2014
  • Fun Fact: es gibt sogar eine eigene Gebärde für den Ödipus-Komplex.

Eine Antwort schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert