Geschichten aus dem Kinderzimmer

Penisneid

Wir haben da diesen Flaschenöffner.

Was für ein bescheuerter Satz: Wir haben da diesen Flaschenöffner.

Dabei soll es eigentlich um Penisse gehen. Und (un)aufgeregte Sexualerziehung.

Der holprige Anfang ist kein Zufall. Denn ungeachtet der Tatsache, dass wir (anders als zu Sigmund Freuds Zeiten) eine gesellschaftliche Hypersexualisierung erleben, durch die man keine Fernsehzeitung mehr kaufen kann, ohne (gemachte und/oder bildbearbeitete) Titten zu sehen, ist Sexualität noch immer ein Tabuthema, das gerade in der Eltern-Kind-Beziehung kaum Resonanz findet.

Dass es tatsächlich vielen Menschen schwer fällt, (mit ihren Kindern) über Sexuelles zu sprechen (und dass ich mich selbst trotz anderslautender Vorsätze davon auch nicht immer freimachen kann), wurde mir jedoch erst spät klar. Mein Schlüsselerlebnis möchte ich gerne schildern.

Vielleicht sollte ich noch einmal anders anfangen.

Wer schonmal auf den Kanaren war, der weiß, dass sich dort (außer Inselbewohner*innen) vor allem drei Bevölkerungsgruppen aufhalten:

  1. Familien mit kleinen Kindern (weil der Flug so billig ist)
  2. Deutsche Rentner*innen (weil die Unterkunft so billig ist)
  3. Britische Junggesell*innen-Abschiede (weil zusätzlich zu den o.g. Gründen auch das Bier billig ist)

Für mindestens eine dieser drei Gruppen gibt es auf jeder kanarischen Insel Läden, in denen “lokaltypische” Souvenirs angeboten werden. Es handelt sich erstaunlicherweise um genitale Devotionalien, die das Sujet des erigierten Penis in mannigfaltigen Form darstellen: Penisaufkleber, Penislollies, Peniskettenanhänger, Penisstethoskope (sic!), etc. und eben auch besagte Flaschenöffner.

Liegt gut in der Hand und macht Biere auf: Der Flaschenöffner.

Die schiere Vielfalt des Angebots lässt bereits bei einmaligem Hinsehen auf eine unerwartet große Nachfrage schließen. Die Frage, wer – zum Henker – den Scheiß eigentlich kauft, kann ich empirisch zumindest teilweise beantworten: mein Bruder zum Beispiel.

Und da Quatschgeschenke in unserer Familie eine lange Tradition haben, besitze ich also diesen Flaschenöffner. (Eigentlich sogar mehrere, denn mein Bruder war schon öfter auf den Kanaren, aber das tut nichts zur Sache.)

Der Flaschenöffner liegt gut in der Hand, macht zuverlässig Biere auf und ist ein unkomplizierter Conversation Opener auf jeder Cocktailparty. Deshalb haben wir ihn auch ohne weiteres Nachdenken im Sortiment unseres Haushalts belassen, als wir Eltern wurden. Unsere Kinder machen selbstverständlich ihre Bio-Fassbrause mit dem Penis-Flaschenöffner auf. Und wenn eine*r das gute Stück sucht, so wird gefragt: “Habt ihr den Penis gesehen?”

Das kam uns ziemlich normal vor bis zum letzten Kindergeburtstag, bei dem wir den begleitenden Eltern Kaltgetränke anboten. Ein Mädchen – nennen wir sie Lisa – hatte besonderen Gefallen an unserem Flaschenöffner gefunden. Lisa war 6 Jahre alt und hatte in ihrem jungen Leben bereits die große Enttäuschung erlebt, dass ihr Vater sich nicht mehr in der Lage sah, für sie und ihren Bruder Verantwortung zu übernehmen.

Was das Luschentum des Erzeugers mit seinem Penis zu tun hat, kann ich objektiv nicht beantworten, da ich diesen (also den Penis) glücklicherweise nie persönlich zu Gesicht bekommen habe. Als Psychotherapeutin (noch dazu mit psychodynamischer Ausrichtung) habe ich aber die ein oder andere Phantasie zu diesem Thema. (Nicht dass es von Relevanz wäre.) Es ist jedoch davon auszugehen, dass das Mädchen bisher eher wenig Penis zu Gesicht und zu Gehör bekommen hat.

“Mama, was machen die da?” – “Die streiten sich.” Tierkopulationen sind immer eine gute Gelegenheit, den Kindern Quatsch zu erzählen. (Bild von Cocoparisienne auf Pixabay)

Kurzum: Lisa streichelte fasziniert das hölzerne Objekt und fragte dann unverblümt ihre Mutter: “Was ist das?”

Die Mutter lief – trotz ihres offensiv zur Schau gestellten libertär-alternativen Nimbus – tiefrot an, zeigte mit dem Finger auf meinen Mann und verkündete schnippisch: “Das kann er dir erklären!”

Lisa wandte sich also geduldig um (sie ahnte wohl, daß ein größeres Thema dahinter steckte) und wiederholte ihre Frage an meinen Mann.

Dieser sah es nicht wirklich ein, dass er die bisher ausbleibende Sexualerziehung einer Sechsjährigen nachholen sollte (ein Thema, bei dem man eigentlich nur verlieren kann) und antwortete mit Pokerface und Achselzucken: “Das ist ein Flaschenöffner.”

Unter den anwesenden Erwachsenen machte sich erleichtertes Gelächter breit, man pries die Cleverness und Schlagfertigkeit meines Mannes und wandte sich anderen Themen zu.

Und auch wenn die Geschichte es längst in unser Familien-Narrativ geschafft hat und in diesem Rahmen schon oft erzählt und belacht wurde, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir Erwachsenen Lisa kollektiv um eine Antwort betrogen haben, die sie an anderer Stelle ihres Lebens vielleicht noch brauchen wird.

Man hätte zum Beispiel antworten können: “Das ist nichts besonderes. Es ist ein Penis aus Holz, mit dem man Flaschen öffnen kann. Manche Erwachsene finden Penisse lustig. Verrückt, oder?”

Aber so weit sind wir (trotz oder wegen?) aller Alltagspornographie offenbar noch nicht.

Deshalb mein Plädoyer an alle Eltern und mich selbst: einfach mal mehr Penis wagen. Und wenn wir schon dabei sind, auch noch mehr Vulva. Unsere Kinder werden es uns danken.

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