Geschichten aus dem Krankenhaus

“Leichen pflastern den Weg eines jeden guten Arztes!”

Es gibt Ereignisse im ärztlichen Berufsleben, die mensch nicht so leicht vergisst.

Manchmal sind es intensive, berührende Begegnungen mit Patient*innen, die noch lange in der Erinnerung nachhallen. Manchmal bleiben vor allem die Erlebnisse im Gedächtnis haften, die mit den eigenen Fehlern zu tun haben (ja, auch Ärzt*innen machen Fehler, auch wenn das noch nicht bei allen so angekommen ist). Manchmal sind es aber auch Situationen in ethischen Grenzbereichen, die im “normalen Leben” eher nicht vorkommen.

Und manchmal ist es eine Kombination aus all dem.

Das ist die Story meiner Freundin Rosa*, die niemals “ihre” erste Tote vergessen wird, die sie als Jungassistentin auf einer internistischen Station zu beklagen hatte. Es ist eine Geschichte von Fehlern, schlechter Kommunikation und falschem Trost.

*der echte Name ist uns bekannt

Eine Jungassistentin im Stations-Chaos.
(Bild von Dhiraj Gursale auf Pixabay)

Rosa begann damals – frisch vom Studium kommend – ihren Dienst auf einer internistischen Station einer Universitätsklinik. Es gab dort 17 Betten, in denen Patient*innen lagen mit allem, was die Innere Medizin so zu bieten hat: Herzinsuffizienz, Krebserkrankungen, chronische Bronchitis, Rheuma, Nierenversagen, Gefäßleiden und Hormonstörungen.

Allein dieses breite Spektrum ist heute (vor allem an einer Uniklinik, wo allenorten die Hochspezialisierung Einzug gehalten hat) nicht mehr vorstellbar. Es bedeutete für Rosa, dass sie sieben Oberärzt*innen hatte, die täglich zur Visite kamen.

Es bedeutete aber auch, dass sie ad hoc in all diesen großen Feldern der Inneren Medizin (für jedes Einzelne gibt es mittlerweile fachärztliche Spezialisierungen) Bescheid wissen musste.

Ein hoffnungsloses Unterfangen.

Rosa hatte im Studium gelernt, wie die chemische Strukturformel von Insulin ist, dass man die histopathologischen Veränderungen beim duktalen Mammakarzinom “hirschgeweihartig” nennt und dass die Halbwertzeit von Chloramphenicol etwa vier Stunden beträgt. Aber sie hatte keine Ahnung, wie man genau (also: praktisch) Blutverdünner eindosiert oder wie man einen Röntgenschein ausfüllt.

Der erfahrene Kollege, mit dem sie gemeinsam auf der Station eingesetzt war, ging an ihrem vierten Arbeitstag für vier Wochen in den Urlaub und keine*r der Verantwortlichen hatte Skrupel, eine blutige Anfängerin vier Wochen am Stück arbeiten zu lassen (denn Rosa musste ja auch jeden Samstag und Sonntag für drei bis vier Stunden zur Visite kommen) oder ihr diese unangemessene Verantwortung aufzubürden.

“Wir sind stolz auf Dich – Du hast niemanden umgebracht!”

Der Stationsoberarzt steckte einmal am Tag den Kopf rein und fragte, ob alles gut sei. Meist war Rosa zu beschäftigt, um sinnvoll darauf zu antworten. Am Ende dieser Zeit schenkten ihre PJ-Studierenden ihr eine Flasche Sekt mit den Worten: “Wir sind stolz auf Dich – Du hast niemanden umgebracht!”

Und das war nur halb ein Scherz.

Denn bereits wenige Tage später ereignete sich die folgende Geschichte. Rosa nahm die etwa 65jährige Frau Tesoro* mit einem weit fortgeschrittenen Tumor im Kopf-Hals-Bereich zur palliativen Chemotherapie auf. Frau Tesoro war alkoholkrank, so sehr, dass sie bereits eine Korsakow-Demenz hatte. So nennt man die durch dauerhaften Alkoholkonsum entstandenen Schäden am Gehirn, die zu Gedächtnisverlust und Verwirrtheit führen. Und nun hatte sie auch noch diesen unheilbaren Krebs.

Woran Rosa damals nicht gedacht hatte war, dass die alkoholkranke Patientin möglicherweise auch weiterhin aktive Trinkerin sein könnte. Das war sie aber. Und so kam sie auch relativ rasch in einen Entzug mit Unruhe, Verwirrtheit und Agitation. Richtig gelesen: Eine ohnehin verwirrte Patientin wurde noch verwirrter. Das ist klinisch richtig schwierig auseinanderzuhalten.

Die Station bemerkte vor allem, dass Frau Tesoro “bettflüchtig” wurde. So wird das Verhalten eines unruhigen Menschen bezeichnet, der weder Traum und Wirklichkeit unterscheiden kann, noch Lust hat, brav in seinem Bett liegen zu bleiben. Leider passierte das vor allem mitten in der Nacht, wo dann auch wieder keiner so richtig an Entzug gedacht hat.

Ein unheilvoller Morgen

Eines morgens kam Rosa zur Arbeit und wurde von der Stationsleitung angeherrscht, sie müsse “jetzt sofort” etwas unternehmen, denn das Verhalten der Patientin – die am Vortag noch relativ normal gewirkt hatte – sei “nicht mehr tragbar”. Rosa solle die Frau jetzt asap sedieren, denn aus Kostengründen würde für die kommende Nacht keine Sitzwache bewilligt, welche die randalierende Frau hätte beaufsichtigen können. (Das war damals schon so. Fragt besser nicht nach dem aktuellen Ist-Zustand.)

Anscheinend war Frau Tesoro die gesamte Nacht unruhig über die Station getapert, hatte sich in fremde Zimmer und einmal sogar in fremde Betten geschlichen. Die Nachtschwester war fix und fertig mit den Nerven.

Ein Blick auf das Kurvenblatt zeigte Rosa, dass der nachtdiensthabende ärztliche Kollege bereits großzügig sein Glück probiert hatte. Sie las von Melperon, Promethazin, Haloperidol, Lorazepam und allerlei anderen Beruhigungs-Cocktails. Alles habe “gar keine Wirkung” gezeigt.

Ein nächster Blick auf die Patientin zeigte Rosa eine unruhige Frau Tesoro, die rastlos wie ein Tiger im Zimmer auf und ab ging, schwitzte und nur schwer kontaktierbar war. Es war deutlich, dass die Dame sehr litt. Rosa ahnte inzwischen auch, dass es wohlmöglich ein Delir durch Alkoholentzug sein könnte.

Sie war aber ratlos, denn alle Medikamente, die sie kannte, waren ja schon ausprobiert worden. Der Kollege war mal wieder nicht da. Der Oberarzt ließ über die Sekretärin mitteilen, dass er erst um die Mittagszeit frei wäre. So war Rosa (mal wieder) auf sich allein gestellt.

Sie rief also eine Kollegin im Hause an, die ihr riet, es mit Clonazepam zu versuchen. Das ist ein Wirkstoff, der mit Valium verwandt ist. Valium wird auch beim Alkoholentzug eingesetzt. Da Rosa das Medikament selber noch nie eingesetzt hatte, fragte sie auch gleich nach der Dosis: “Nimm ruhig eine ganze Ampulle,” antwortete die Kollegin.

Am Ende einer Kausalkette

Aus dem Bauch heraus entschied Rosa sich für eine halbe Ampulle und ging, Spritze in der Hand, zu ihrer Patientin. Sie tat ihr leid, denn Rosa war eine sehr zugewandte, empathische Ärztin. Aber sie hatte auch enormen Druck durch ihre pflegerischen Kolleg*innen bekommen. Sie wollte “das Problem” lösen.

Also setzte sie sich zu ihrer Patientin aufs Bett, legte ihr die Hand auf die Schulter und versicherte ihr, während sie das Medikament spritzte: “Bald geht es Ihnen besser, Frau Tesoro.”

Dann verdrehte die Patientin die Augen und starb.

Es war fürchterlich. Die Unmittelbarkeit und Kausalität dieser Ereigniskette – eine Ärztin spritzt ein Medikament und ein Mensch stirbt – verursachen Rosa noch heute Gänsehaut vor Entsetzen. Es ist eine Situation, die ihren nicht-ärztlichen Freund*innen immer unvorstellbar blieb.

Mal abgesehen davon, dass eigentlich mit Frau Tesoro und ihrem Ehemann vereinbart war, dass angesichts der durch den Tumor nur noch sehr geringen Lebenserwartung im Falle eines Herzstillstandes auf die Wiederbelebung verzichtet würde (DNR heißt das im Krankenhaus-Jargon: Do not resuscitate). Rosa konnte aber ja schlecht jemanden umbringen und dann ihr Nicht-Handeln begründen mit “Aber wir hatten ja vereinbart, dass wir nicht reanimieren wollen.”

Rosa hat dann doch reanimiert. Und es spielt für diese Geschichte keine Rolle, dass sie Frau Tesoro “wiedergeholt” hat (ich habe an anderer Stelle einen Artikel über medizinische Wortverirrungen geschrieben). Denn zurück kam nur ihr Herzschlag. Ihr Bewusstsein blieb – auch dank eines künstlichen Komas – bis zu ihrem endgültigen Tod einige Tage später verloren.

Rosa weiß heute, dass sie ihre Patientin nicht wirklich “umgebracht” hat. Sie kann retrospektiv anerkennen, dass es das leidlich behandelte Delir und die Kumulation verdammt vieler Medikamente waren, die zu diesem Ereignis geführt haben. Und sie weiß, dass der Nachtdienst-Kollege ebensoviel Verantwortung (wenn nicht gar Schuld) auf sich geladen hat, denn er hatte sich die Patientin trotz mehrfacher Anordnung starker Medikamente via Telefon nicht mal angeschaut.

Letztlich war es ja ein Entzugsdelir, das auch mit adäquater Versorgung hätte schlecht ausgehen können. Und dann war da noch der Tumor. Vom Organisationsverschulden nicht zu sprechen: eine junge Ärztin ohne fachliche Supervision allein zu lassen.

Ja, ja, ja.

Wie soll man dieses Gefühl beschreiben?
(Bild von Cdd20 auf Pixabay)

Aber wie soll sie das Gefühl beschreiben, das sie damals hatte und dass sie auch heute noch nicht richtig loslässt? Diese unendlich große Schuld, diese Trauer, diese Angst, welche Konsequenzen das wohl haben werde?

Rosa war durch nichts in ihrem Studium auf diese starken Gefühle vorbereitet worden und hatte durch niemanden im Medizinsystem gelernt, wie man damit sinnvoll umgeht.

In ihrer Verzweiflung suchte sie Entlastung bei ihrem väterlich-weisen Oberarzt. Der legte ihr begütigend die Hand auf die Schulter und sprach mit einer Stimme wie ein Priester bei der Absolution die vermutlich als Trost gemeinten Worte:

“Leichen pflastern den Weg eines jeden guten Arztes!”

Selten ist ein Trost so nach hinten losgegangen. Rosa brach endgültig in Tränen aus und schluchzte: “Aber das will ich nicht.” Das konnte doch nicht sein Ernst sein, dass sie durch “Trial und Error” Menschenleben aufs Spiel setzte (und im Zweifel verlor), damit sie eine “gute Ärztin” wurde. Ich glaube nicht, dass er ihre Verzweiflung verstanden hat. Für ihn war es halt nicht der Rede wert.

Unnötig zu erwähnen, dass es keine Nachbesprechung, kein Debriefing, keine Supervision des Falles gab. Und auch keine Konsequenzen für Rosa.

Im Gegenteil. Einer der schlimmsten Momente war es für sie, als der Ehemann der Patientin auf die Station kam, weil er sich ausgerechnet bei Rosa für die liebevolle Behandlung seiner Frau bedanken wollte. Er habe immer gespürt, wie gut sie bei ihr aufgehoben gewesen sei. Rosa ist damals vor Scham fast im Boden versunken.

Haltlosigkeit und Selbstzweifel

In den folgenden Wochen und Monaten hat Rosa oft mit sich und der Entscheidung für den ärztlichen Beruf gehadert. Ironischerweise spielte neben den eher fruchtlosen inhaltlichen Überlegungen (Was hätte sie anders machen können, machen müssen? Was musste sie lernen, wissen, lesen, damit ihr soetwas nie wieder passiert?) vor allem die Tatsache, dass ihr das Ganze so nah ging (und es Kolleg*innen gab, die das absurd fanden), eine zentrale Rolle. War sie vielleicht nicht abgebrüht genug, um Ärztin zu sein? War sie zu weich? Zu emotional? Zu “nah dran”, wie es ein (natürlich männlicher) Kollege mal formulierte?

Irgendwas machte sie falsch. Denn ihre berufliche Umgebung spiegelte ihr, dass sie und ihre Art, mit dem Ereignis umzugehen, verkehrt wären. Es wurde niemals explizit ausgesprochen, aber das “Jetzt lass mal die Kirche im Dorf” war mehr als deutlich zu spüren. Rosas eigenes Bedürfnis zur Aufarbeitung (wie wäre es mit: aus Fehlern lernen???) fand sie nirgendwo wieder.

Retrospektiv sagt Rosa, dass es – neben den intraindividuellen und (möglicherweise geschlechtsspezifischen) Sozialisationsfaktoren – mit großer Sicherheit die männlich geprägte, toxische Fehlerkultur war, die ihr am meisten zu schaffen gemacht hat. In einer Welt, in der per se keine Fehler gemacht werden, weil keine Fehler gemacht werden dürfen, werden diese weder wahrgenommen, noch besprochen. Und Rosas Fehler war “gering” genug, um unter den Teppich gekehrt zu werden. Er ist nicht mal als Fehler wahrgenommen worden.

Eine neue Fehlerkultur ohne Shaming und Blaming

Zum Glück hat sich heute viel geändert. Es gibt flächendeckend Berichtssysteme über kritische Vorkommnisse, in denen anonym eigene und fremde Behandlungsfehler berichtet werden können. An vielen Stellen wird versucht, eine Speak-up-Culture zu etablieren und angehende Ärzt*innen werden mit der neuen Approbationsordnung künftig an allen Universitäten in Fehlerkommunikation unterrichtet.

Damals (es hört sich an, als wäre es vor hundert Jahren gewesen, dabei ist es keine zwanzig Jahre her) hatten Mediziner*innen in Deutschland noch nie von Open Disclosure gehört.

Die komplette Verleugnung der Möglichkeit, dass Fehler passieren, führte zu krassen Überreaktionen auf der anderen Seite: Ich selber habe erlebt, dass sich, wenn Fehler sich nicht mehr vertuschen ließen, die sonst so zynische ärztliche Gemeinschaft gnadenlos gegen den Fehlenden wendete.

Fehler wurden individualisiert (die Frage der systemischen Verantwortung wurde nie gestellt) und der einzig etablierte übliche Umgang damit drehte sich um Schuldfragen. Das ging so weit, dass Klinikjurist*innen ärztlichen Behandler*innen nach einem Fehler dringend anrieten zu schweigen.

Das heutige Wissen, dass es sich dabei um den Abwehrmechanismus der Projektion handelt, bei dem ungeliebte eigene Anteile auf ein anderes Objekt übertragen werden, hätte Rosa damals vielleicht geholfen. Sie merkte stattdessen eine für sie kaum aushaltbare Dissonanz zwischen den inneren Wahnehmung und der äußeren Realtität.

Reflexhaftes Verurteilen und Beschuldigen verhindert eine offene und konstruktive Fehlerkultur.
(Bild von Antonios Ntoumas auf Pixabay)

Die Balint-Gruppe war die Rettung

Das war der Moment, in dem Rosa sich entschied, zu einer Balintgruppen-Tagung zu gehen. Sie hat sich dort dann zwar nicht getraut, vor all diesen erfahrenen Therapeut*innen (denn sie war die einzige Somatikerin in diesem Reigen) ihren Fall zu präsentieren, aber die dort erfolgte Konfrontation mit Kolleg*innen, die offen über ihre Fehler und Schwächen sprachen, die ihre Zweifel, ihre Skepsis, ihre (vermeintlich) unangebrachten Gedanken offenbarten, öffneten ihr die Augen und machten letzten Endes wieder Mut, doch weiter als Ärztin zu arbeiten.

Das Problem war ja nicht (wie ihr von Kolleg*innen suggeriert wurde), dass sie zu empathisch oder (wie sie selbst dachte) zu schlecht ausgebildet war. Das Problem war, dass es keine ordentliche Supervision vor, während und nach dem Fall gab und dass sie in einer Kultur des Schweigens und Vertuschens arbeitete, als eine offene Fehlerkommunikation angebracht gewesen wäre.

Rosas Fehler war es, dass sie sich von der Hast der pflegerischen Kolleg*innen hat anstecken lassen und nicht deutlich genug auf Unterstützung durch ihren Oberarzt gepocht habe. Und dass sie – wie alle anderen – keinerlei Versuch unternommen hat, der Familie von Frau Tesoro zu berichten, was wirklich vorgefallen ist.

Rosa ist Ärztin geblieben, und ich darf sagen, eine sehr gute noch dazu. Sie hat im Verlauf der Jahre noch viele Menschen auf dem ihrem letzten Lebensweg begleitet und zum Glück nie wieder ein vergleichbares Erlebnis gehabt.

Heute weiß sie sehr genau, dass sie weder hart und abgebrüht sein will, noch dass sie ihren Patient*innen als fehlerfreie (Halb)-Göttin in weiß begegnen möchte. Es war für Rosa eine sehr bewusste Entscheidung, sich auch in ihrer Rolle als Ärztin als fehlbarer Mensch mit Empathie und Mitgefühl zu präsentieren. Auch wenn das bedeutet, dass ihr das Schicksal ihrer Patient*innen mitunter sehr nahe geht. Aber das sind zwei Seiten der gleichen Medaille.

*alle Namen sind geändert

Bild oben: von Monika Erol auf Pixabay

Weiterführende Literatur und Hinweise:

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