Altklug
Sprichwörtercheck #1
Manche Wörter unserer Sprache sind so absurd, dass ich oft zweimal drüber nachdenken muss, bevor ich verstehe, was möglicherweise gemeint sein könnte. Aktuell kam mir der Begriff “altklug” in den Sinn.
Altklug, das ist verwandt mit anderen vom Aussterben bedrohten Wörtern wie “naseweis” oder “neunmalklug”. All diese Bezeichnungen tragen eine abfällige, sehr negative Konnotation. Eltern möchten jedenfalls nicht gerne über ihr Kind hören, dass es altklug sei.
Warum eigentlich? Denn wenn an den Einzelkomponenten des Adjektivs – alt und klug – nichts verkehrt ist, wie kommt dann der negative Touch ins Kompositum?
Der Duden als anerkannte Kornifere (sic!) auf dem Gebiet der Wörter definiert den Begriff “altklug” wie folgt:
(von einem Kind) in seinen Äußerungen nicht kindgemäß, nicht seinem Alter, sondern eher Erwachsenen entsprechend
https://www.duden.de/rechtschreibung/altklug
Und die Wikipedia als Hort der Schwarmintelligenz informiert mich, dass es sich um “eine milde Form des Tadels” handele, da die “Meinungsäußerungen oder auch Charakterzüge” des altklugen Kindes “lediglich klug erscheinen, etwa, weil es dafür noch gar nicht genug Welt- und Lebenskenntnis haben könne. Der Tadel kann dann Hochbegabte ebenso wie Nachplapperer oder Blender treffen.”
Aha.
Ich versuche das mal in leichte Sprache zu übersetzen. Ein Kind sagt etwas schlaues. Erwachsene finden das nicht gut, weil sie finden, dass das Kind zu jung ist zum schlau sein.
Hmmm.
Erwachsene haben also die komplette Deutungshoheit über kindliches Denken, Fühlen und Verhalten, auch wenn sich das Kind eines vermeintlich erwachsenen (=erstrebenswerten) Duktus bedient und sie selbst den Nachwuchs infantilsieren durch inadäquate Babysprache (“Mama muss noch gerade den Blogartikel zu Ende schreiben.”).
Sie legen damit auch die soziale Rolle fest, die ein Kind spielen muss: dumm, gehorsam, formbar.
Wenn ein Kind aus dem Schema ausbricht, wird es abgewertet.
Needless to say, dass “kindisch” ebenfalls eine gern zwischen Erwachsenen, aber auch im Kontext der Degradierung Heranwachsender genutzte Abwertung darstellt. Wie man es also macht, macht man es verkehrt. Ich habe schon lange die Theorie, dass es vor allem für schlaue Kinder die Hölle sein muss, Kind zu sein.
Zugleich leben wir in einer Welt, in der sich schwangere Frauen Mozart über die Babyplautze reinziehen, damit das Ungeborene einen Vorsprung in der Intelligenzentwicklung hat. In deutschen Großstädten gibt es trilinguale Kitas. Die musikalische Entwicklung eines Kindes wird nur noch als Instrument für die Entfaltung der mathematischen Fähigkeiten betrachtet. Intelligenz – als Äquivalent für den erträumten Lebenserfolg eines Menschen – ist DER heilige Gral der Kindererziehung in der westlichen Welt.
Vielleicht erklärt das, warum der Begriff “altklug” ausstirbt. Denn es handelt sich ja so ziemlich um die dümmste Beleidigung, die man sich ausdenken kann: “Mein Gott – das blöde Kind ist schlau!”
Die aufmerksame Therapeutin stellt sich spätestens an dieser Stelle die Frage, ob es gegebenenfalls die Angst vor dem intelligenten Kind sein könnte (das möglicherweise cleverer ist als der/die Sprecher*in), die zu dieser Wortschöpfung führte.
Sind denn alte Leute klüger als junge?
Aus meiner bescheidenen Erfahrung, die vollkommen ohne statistische Signifikanz ist, habe ich derzeit eher nicht den Eindruck, dass das so ist (es lebe die subjektive Empirie).
Meine Nachbarin beispielsweise, die schon über 70 ist, hält Hendrik Streeck für einen guten Virologen, weil er einen so hübschen Labrador hat. Ein anderer Nachbar, etwa 68 Jahre, schimpft auf die Grünen, weil sie “jetzt die pflegeleichten Gärten verbieten wollen” (er meint seinen funktional-unlebendigen Steingarten mit kompletter Bodenversiegelung). Und eine Freundin meiner Mutter hat noch nie in ihrem Leben gewählt.
Da würde man sich eine gehörige Portion neunmalkluge, naseweise Altklugheit wünschen.
Ob man wohl auch altklug sein kann, wenn man schon alt ist? Das wäre doch hübsch.
Bild ganz oben von Annalise Batista auf Pixabay